AirMediPlus: Frau Genz, Sie haben gerade tracheotomierte und/oder beatmete Patienten angesprochen. Welche Krankheitsbilder liegen dort zu Grunde?
Genz: Die Langzeitbeatmung betrifft häufig Patienten im Koma, z.B. nach Apoplex oder Unfall. Auch mechanische Behinderungen der Atmung, im Bereich des Kehlkopfes durch Verletzungen oder Tumore oder aber Lähmungen (im Bereich des Kehlkopfes oder der Atemmuskulatur) bedürfen einer logopädischen Behandlung. Dazu gehören z.B. Apoplex, Morbus Parkinson, Multiple Sklerose, Amyotrophe Lateralsklerose, Hypoxien, Intoxikationen, Medikamenteneinwirkung (z.B. Neuroleptika), Tumore, traumatische Läsionen, entzündliche Erkrankungen, Infektionen, Guillain-Barré-Syndrom, Myasthenia gravis oder Muskeldystrophie. Spezifische Erkrankungen bei Kindern sind Entwicklungsstörungen wie: pränatale Hirnschädigung, Geburtstrauma, Frühgeburtlichkeit und unreife Lungenbildung oder pulmonale Störungen des freien Luftzuganges aus anderen Gründen.
AirMediPlus: Welche Therapien werden von Ihnen am häufigsten durchgeführt?
Genz: Da ich mich auf die Behandlung frühgeborener Kinder spezialisiert habe und wir insgesamt einen hohen Anteil junger Patienten haben, ist der Schwerpunkt unserer Therapien auf Schluckstörungen ausgerichtet, da diese zunächst häufig einen oralen oder zumindest teiloralen Kostaufbau einleiten und die Patienten ein sicheres Schlucken erlernen.
Zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit werden meist in einem zweiten Schritt Lautanbahnungen und Sprachentwicklung bei Kindern therapiert. Hier häufig parallel zur Schlucktherapie. Bei Erwachsenen beinhaltet die Schlucktherapie auch immer auch Elemente der Dysathrietherapie, die Muskelaufbau und Bewegungskoordination behandelt.
Die Muskulatur des Schluckapparates ist zum Teil gleich der des Sprechapparates, das heißt die gesamte Lautbildung erfolgt über Bewegung und Koordination von Muskeln und Atmung.
Die Möglichkeit zu schlucken erfordert ebenfalls im hohen Maße die Koordination von Bewegung und Atmung, bzw. beim eigentlichen Schlucken das zeitlich korrekte Anhalten und wieder Beginnen der Atmung.
AirMediPlus: Würden Sie über ein Beispiel aus Ihrem Alltag etwas detaillierter berichten?
Genz: Es handelte sich um ein damals 10 Monate altes Frühgeborenes aus der SSW 24 plus 3 mit Stenose in Höhe der Trachealspangen. Wegen des Lungenproblems Frühgeborener, wurde sofort nach der Geburt eine Versorgung mit Kanüle und einer Vollbeatmung durchgeführt. Der Junge wurde in der Klinik und anschließend zu Hause vollbeatmet. Die Anfangsprognose lautete eine lebenslange ständige Vollbeatmung ohne Möglichkeit zur eigenständigen Atmung oder Fortbewegung. Unter Atemtherapie und Entwöhnung der Vollbeatmung entwickelt er sich körperlich und geistig stetig weiter, ist aber noch stark entwicklungsverzögert. Er ist jetzt 5 Jahre alt und besucht einen Kindergarten. Die Vollbeatmung wurde in geringen Stufen in einem Zeitraum von 2 Jahren entwöhnt. Der Junge atmet aktiv unter angepasstem Atemrhythmus. Die Kanüle benötigt er nach wie vor, da die Stenose eine reguläre Atmung, vor allem die Ausatmung, beeinträchtigt. Er neigt zum Überblähen der Lungenbläschen, was negativen Einfluss auf das Verhältnis von Sauerstoff und CO2 hat.
Therapieschritte: Kräftigung der gesamten Atemmuskulatur durch Atemtherapie, Einüben eines adaptierten Atemrhythmus, Aufbau von annähernd physiologischen Schluckmustern mit dem Ziel einer altersgerechten Ernährung.
Mittlerweile kann der Junge fast alle Nahrung zu sich nehmen und zeigt kompensatorische Schluckmuster, die sehr sicher sind. Es kommt praktisch nicht mehr zum Verschlucken, sodass keine Reste in der Kanüle vorhanden sind. Das bedeutet für den Jungen einen immensen Schritt in ein normales Leben. Im Kindergarten kann er die meisten Angebote annehmen und zeigt viel Lebensfreude. Grenzen zeigen sich bei körperlichen Anstrengungen. Hier ist er schnell erschöpft und muss eine Pause machen, um die Atmung wieder zu regulieren.
Ein weiteres Beispiel: Im Alter von 3 Jahren begann ich mit der Therapie bei einem mittlerweile 10-jährigen Kind. Der Junge hat eine Erkrankung, die die Muskulatur so beeinträchtigt dass diese sich gar nicht bewegen kann. Das ist eine Spindelerkrankung im Muskelkern und betrifft natürlich alle Muskeln – auch die Muskeln die für die Atmung notwendig sind. D. h. er war von Anfang an voll beatmet. Er hat einen riesengroßen Kopf und kann auch nicht alleine schlucken, die Ernährungstherapie ist sehr schwierig und erfolgt über eine PEG. Er hatte damals starke Verschleimungen und die Physiotherapie regte an, die Logopädie dazu zu nehmen, um in diesem Bereich mehrfach arbeiten zu können. Ebenso kam es durch die Beatmung über das Tracheostoma zu starken Verborkungen im Mundbereich. Das haben wir dann zusammen auch ganz gut durch Schleimhautsensibilisierungsübungen usw. in den Griff bekommen. Ich bin damals 3x bis 4x pro Woche da gewesen und jetzt sind es noch 2x/Woche. Die Kinderkrankenschwestern sind gut angeleitet worden und machen einfach das was ich auch mache.
AirMediPlus: Wie kann man sich diese Schleimhautsensibilisierung vorstellen?
Genz: Die Schleimhäute im oralen Bereich werden bei beatmeten Patienten nicht mehr belüftet, weil der Atemstrom nicht mehr über Nase und Mund geht und dadurch verkümmern diese – sie werden nicht mehr getriggert. Hauptsächlich wird eine Vibrationstherapie mit kleinen Massagegeräten angewandt. Es gibt extra Aufsätze für den Wangen- und Zungenbereich und es wird mit Kälte/Wärme gearbeitet. Das kann man auch mit Zahnbürsten oder verschiedenen anderen Möglichkeiten erreichen. Man kann auch einen nassen, kalten oder warmen Waschlappen nehmen und mit der Spitze ein bisschen taktieren. Die Schleimhaut muss immer wieder bewegt werden, weil die Atemluft keine Reize setzt. Demzufolge sind auch die Schluckmuskeln sehr hypoton. Diese Kinder können nicht sprechen und dadurch werden diese Muskeln auch nicht trainiert, und das stielen wir dann ein, also bahnen das an und haben häufig auch Erfolge. Bei dem Kleinen hat es dann auch in etwa geklappt. Wir haben geschafft, dass er Speichel schlucken kann, dass er Kaubewegungen durchführt, und das jetzt auch schon mal – an guten Tagen (das geht eben nicht an jedem Tag. Aber er fand das damals ganz toll als wir angefangen haben die verschiedenen Geschmacksrichtungen auszuprobieren. Und das war ein bisschen grenzwertig, weil bei diesen Patienten häufig die Geschmacksnerven verkümmern und dann klappt es nicht mehr. Bei ihm ging das aber, er kann also Geschmacksrichtungen differenzieren und hat wie jedes Kind Vorlieben und Abneigungen. Aber das meiste passiert über geringste Mengen, mit einem Wattestäbchen auf die Zunge gegeben. Das kann er dann auch abschlucken, wenn er selber sagt „ja, heute kann ich das“ und manchmal sagt er „nein, heute ist ein komischer Tag“ dann lassen wir das, weil auch immer die Gefahr einer Aspirationspneumonie gegeben ist.
AirMediPlus: Ich würde gerne noch einmal auf die beatmeten Patienten und ihre Abhängigkeit von dem Beatmungsgerät zu sprechen kommen. Gibt es Techniken, mit denen sich beatmete Patienten auch ohne Beatmungsgerät vorübergehend mit Sauerstoff versorgen können?
Genz: Es gibt verschiedene Atemtechniken, die Patienten anwenden, um von der Vollbeatmung wegzukommen. Im Erwachsenenbereich, vorausgesetzt sie sind fit, können sie lernen möglichst viel Luft/Sauerstoff in der Lunge zu lagern – möglichst tief unten. Die Technik beinhaltet, dass das Zwerchfell besonders langsam entspannt wird, um die Luft sehr fein dosiert auszuatmen/ausströmen zu lassen. Wenn man z.B. summt kann das Luftvolumen sehr lange gehalten werden.
Wichtig ist eine nicht einseitige Therapie, also z.B. nur schlucken zu lernen, sondern immer in Kombination mit der Kommunikation, damit Patienten auch möglichst am sozialen Leben teilnehmen können.
Kontakt:
Praxisgemeinschaft für Ergotherapie
und Logopädie
Rüdiger und Bettina Genz
Virchowstraße 39
46047 Oberhausen
Telefon 0208 · 88 21 65 27
Falkensteinstraße 138
46047 Oberhausen
Telefon 0208 · 810 96 91
Praxisinfos:
Die Praxisgemeinschaft für Ergotherapie und Logopädie von Rüdiger und Bettina Genz befindet sich an zwei Standorten. Derzeit gehören zum Praxisteam, sowohl für die Ergotherapie als auch die Logopädie, jeweils vier Therapeuten. Der Handlungsbedarf steigt, so dass für Herbst d.J. eine Praxiserweiterung und Neueinstellungen geplant sind.
Behandelt werden sowohl Erwachsene als auch Kinder, der Anteil an Kindern überwiegt jedoch, da sich Frau Genz auf die Behandlung von Frühchen spezialisiert hat und so gute Kooperationen mit den Kinderärzten bestehen. Weiterhin werden einige Kontakte auch über die Kinderkrankenpflege geknüpft und vermittelt.
Meilensteine in der Logopädie:
1974: Verabschiedung des Rehabilitationsangleichungsgesetz, das Krankenkassen dazu verpflichtet, die Kosten für eine logopädische Therapie zu übernehmen. Zeitgleich erstellten die Rentenversicherungsanstalten einen neuen Rahmen für die Rehabilitation. Dadurch wurde die neurologische Reha ein großer Arbeitsbereich in der Logopädie.
1977: Erarbeitung einer Ausbildungs- und Prüfungsordnung. Auf dieser Basis wurde am 1. Oktober 1980 das unter den Fachleuten umstrittene Gesetz zum Beruf des Logopäden verabschiedet. Umstritten auch, weil einfach viele kompetenzübergreifende gleiche Tätigkeiten von verschiedenen Heilmittelerbringern erbracht werden.