Thema des sechsten innovation hub, zu dem Christoph Jaschke, Founder und CEO CODY.care am 10. Mai 2023 nach Berlin eingeladen hatte, war der Fachkräftemangel in der Pflege. Für die hybride Tagesveranstaltung hatten er und Dr. Alexander Schwandt ausgewiesene Expert*innen gewonnen, die sich eingehend mit der Frage beschäftigten, wie es möglich sein könnte, auf die Fachkräfteentwicklung Einfluss zu nehmen.
Dr. med. Timm Steuber, Notfallmediziner und Coach im Gesundheitswesen, gab in seinem Beitrag Hinweise, wie die Arbeitsbedingungen in Teams verbessert werden könnten. Dies gelinge häufig schon allein durch einen Perspektivwechsel, indem man denjenigen mehr Aufmerksamkeit schenke, die bereits hervorragende Arbeit leisten. Deren Einstellung gelte es zu unterstützen und zu stärken. In einem positiv gestimmten Betriebsklima würden sich frustrierte, missmutige und negativ eingestellte Mitarbeitende zunehmend unwohl fühlen.
Prof. Dr. rer. medic. Michael Isfort, dip Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V., räumte in seinem Vortrag mit der Mär des „Pflexits“, also dem massenhaften Ausstieg von Pflegenden aus ihrem Beruf, auf. Anhand von Statistiken aus seinem Hause zeigte er, dass der Pflegekraftmangel andere Gründe habe. Hauptgrund sei, dass immer mehr Pflegende in Rente gingen und die Anzahl der nachkommenden Pflegekräfte zu klein sei, um diese Lücke zu schließen. Um so wichtiger sei es, sich ein faktenbasiertes Bild von den Pflegenden zu verschaffen. Diese seien überwiegend langjährig in ihrem Beruf tätig („Berufstreue“), hätten eine hohe Verbindung zum gewählten Sektor („Sektorentreue“) und bewegten sich in einem räumlich relativ eher kleinen Radius („Ortstreue“). Um junge Pflegende zu gewinnen, müsste man sich darüber im Klaren sein, was diesen bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes wichtig sei. Untergangsszenarien und Katastrophenmeldungen zum Stand der Pflege seien kontraproduktiv und würden die Fachkräftesicherung und -bindung eher behindern. Bei der folgenden Diskussion wurde mehrfach geäußert, dass Pflege nach wie vor ein sinnerfüllender und wunderbarer Beruf sei. Deshalb solle man sich viel mehr darauf konzentrieren, die Begeisterung dafür zu wecken. Um Pflege mehr mit dem Alltag zu verknüpfen, wären beispielsweise „Schulkrankenschwestern“ oder „Schulkrankenpfleger“ an jeder Schule wünschenswert, die zugleich Kinder mit Behinderung oder Diabetes betreuen könnten. Damit käme man auch dem Gebot der Inklusion, welche die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, einen großen Schritt näher, so Corinna Rüffer MdB (Bündnis 90/Die Grünen). Eine solche Fachkraft könnte die ständige Schulbegleitung ersetzen.
Rege an diesen Diskussionen beteiligten sich Dorothee Seidl und Daniela Schöller, Fachkrankenschwestern für Anästhesie und Intensivmedizin mit vielen Weiterqualifizierungen, die seit Jahrzehnten in ihrem Beruf praktizieren. Man müsse Frauen viel mehr Chancen geben, den Pflegeberuf mit dem Familienleben zu vereinbaren, gezielt Frauen nach der Familienphase wieder in den Beruf zurückzuholen und flexibler bei der Dienstplangestaltung zu sein. Birgit Pätzmann-Sietas, Präsidiumsmitglied Deutscher Pflegerat e.V. (DPR), wies ihn ihrem Beitrag darauf hin, wie viel die Konzertierte Aktion Pflege (KAP) bereits erarbeitet habe. Diese Konzepte müssten nur noch umgesetzt werden! Zudem müssten jüngere Pflegende für ein berufspolitisches Engagement begeistert werden, da dies momentan vor allem von Älteren getragen werde.
In seinem historischen Rückblick auf die Anwerbung von ausländischen Pflegenden zeigte Heinrich Recken, Leiter Forschungsprojekte am HFH Studienzentrum Essen bei Hamburger Fern-Hochschule, an konkreten Beispielen, welche Fehler in der Vergangenheit gemacht wurden und mit welch falschen Erwartungen oftmals Pflegende aus dem Ausland an die Pflege hierzulande herangingen. Es sei niemanden geholfen, wenn Pflegekräfte verbittert und enttäuscht nach kurzer Zeit wieder in ihre Heimatländer zurückkehrten, weil z.B. in Deutschland auch Behandlungspflege von Pflegenden durchgeführt werden müsse.
Die ausgesprochen produktive Veranstaltung machte u.a. folgende Kernpunkte bewusst:
- Pflege ist wichtiger denn je und wird nicht untergehen!
- Pflege braucht mehr Freiräume und muss im Alltag sichtbarer werden!
- Pflegenden sollte man viel mehr zutrauen, eigene Projekte zu entwickeln und sich selbst zu organisieren!
- Pflegeforschung ist die Grundvoraussetzung für eine Weiterentwicklung der Pflege
- Es muss ein Bewusstsein für Kooperieren unter Kompetenz geschaffen werden: Als Pflegende*r ist man Bestandteil eines umfassenden Systems, nicht eines einzelnen Trägers oder Unternehmens.
- Pflegende und Menschen im Ehrenamt sollten sich mehr miteinander vernetzen
- Es müssen Rechtskreis übergreifende Strukturen geschaffen werden
- Pflegewissenschaft und Berufspolitik sollten in engeren Austausch miteinander gehen
- Pflege darf in Zukunft nicht mehr nur Bittstellerin sein, sondern sollte in die Lage versetzt werden, selbst Innovationsprojekte anzustoßen. Bislang verwalten ausschließlich die Krankenkassen die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel.
Der innovation hub machte seinem Namen alle Ehre und regte zum Nach- und Umdenken an. Durch den intensiven Gedankenaustausch, auch mit den zugeschalteten Teilnehmenden, wurden neben neuen Erkenntnissen auch neue Verbindungen geknüpft, um gemeinsam die Pflege weiterzuentwickeln.
Der nächste innovation hub findet in ca. vier Wochen, am 13. Juni 2023, statt. Dann wird es mit auserlesenen Gästen um die Fragen „Von der AKI-Richtlinie bis zur Bundesrahmenempfehlung. Wie kann die praktische Umsetzung von Potenzialerhebung, Verordnungs-management und MD-Begutachtung gelingen? Und wie verändert sich die außerklinische Intensivversorgung durch die Bundesrahmenempfehlung?“ gehen. Tagungsort ist das Steigenberger Hotel Am Kanzleramt in Berlin.
Weitere Informationen und Anmeldung unter www.cody.care/innovation-hub
Titelbild: Die Referent:innen des sechsten innovation hub. Abbildung: CODY.care
Quelle Text und Abbildung: CODY.care
16. Mai 2023