„Unser Sohn ist überall dabei“

„Unser Sohn ist überall dabei“
Wie alles begann…
Sevin Özer wurde am 29. Januar 1999 in Bochum im Sankt Elisabeth Hospital geboren. Der heute 16-jährige Junge kam mit dem Aicardi-Goutières-Syndrom auf die Welt. Die Schwangerschaft verlief eigentlich komplikationslos. Es gab wohl Auffälligkeiten bei der Blutuntersuchung doch eine nachfolgende Fruchtwasseruntersuchung deutete auf keine Erkrankungen hin. Die Geburt erfolgte ohne Komplikation. Auffällig war jedoch, dass Sevin nach der Entbindung nicht schrie – er war einfach still. Die erste Untersuchung nach der Geburt führte zu normalen Ergebnissen erinnert sich sein Vater Mustafa: „Dann hat er aber nach einem Monat an beiden Seiten am Kopf eine weiche Stelle gehabt, wie von einer Saugglocke“, die aber bei der Geburt nicht benutzt wurde. Die Kinderärztin führte eine Ultraschalluntersuchung durch und konnte weiße Flecken im Gehirn sichten. Danach folgten weitere Untersuchungen.
„Erst ein MRT – das war in Ordnung“, sagte Mustafa Özer, „im Josefskrankenhaus wurde ein CT gemacht. Da wurden auffällige Punkte entdeckt und der Arzt, er erinnerte sich an einen ähnlichen Fall, kontaktierte die Essener Uniklinik. “Dort wurden in einem weiteren CT die Punkte bestätigt und als Verkalkungen identifiziert. Es folgten weitere Untersuchungen, so wurde auch Rückenmarksflüssigkeit entnommen und zu einem Spezialisten nach Paris geschickt. Es stellte sich heraus, dass das Protein Interferon Alpha stark erhöht war. „Dies weist eigentlich auf eine vorgeburtliche Infektion hin, doch diese hatte nicht stattgefunden“, erklärt Özer. Schlussendlich stellten die Ärzte die Diagnose AicardiGourtiers-Syndrom. „Bei Sevin liegt ein Gendefekt vor, doch das konnte erst Jahre später festgestellt werden. Meine Frau und ich besitzen beide das defekte Gen und haben es dann an unseren Sohn weiter gegeben. Das Risiko der Vererbung liegt bei 25 %.“
Etwa einen Monat nach der Geburt wurde er insgesamt sehr unruhig und hat viel geweint. „Wir gingen mit ihm spazieren, doch schon nach kurzer Zeit fing er an zu schrei – en. Es war als hätte er nach Halt gesucht – war ängstlich. Wenn er Körpernähe spürte wurde er ruhiger“, erinnert sich der junge Vater. Sobald er in den Kinderwagen oder in die Badewanne gesetzt wurde war es ganz schlimm. In der Kinderklinik hat man es auf die Sechs-Monate-Koliken geschoben. Die Ärzte im Krankenhaus wussten ansonsten auch nicht weiter. „Sie waren oft schon wegen der Grunderkrankung überfordert. Später wussten wir, dass es Krampfanfälle waren. Meine Frau und ich haben nachts Wechselschicht gemacht und bei Sevin gewacht und ihn zu beruhigen versucht. Wir haben dann wechselweise zwei Stunden geschlafen“, erklärt der Vater. Als Sevin etwa vier bis fünf Monate alt war setzte die Krankengymnastik ein. Methoden wie Bobath oder Vojta kamen zum Einsatz und wurden regelmäßig von den Eltern angewendet. Sevin wurde zu der Zeit etwas beweglicher.
Im Alter von sieben Monaten hatte er sich nicht viel weiterentwickelt – weder psychisch noch physisch. Er konnte den Kopf nicht aufrecht halten und keinen Blick fixieren. Zeitweise war er sehr ruhig, hatte gut getrunken und auch gut geschlafen. Die meiste Zeit jedoch war er sehr unruhig und schrie viel. Er schlief unruhig und wachte nach kurzer Zeit wieder auf. Er hatte meistens wenig getrunken und es folgten Probleme mit der Verdauung.
Mittlerweile hat Sevin eine Tetraparese und Kontrakturen entwickelt – früher waren die Arme noch locker gewesen. Irgendwann setzten dann die Spastiken ein. Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine Skoliose worauf im Jahr 2011 eine Wirbelsäulenoperation unumgänglich wurde.
Früher war er schreckhafter, jetzt ist er ruhiger geworden…
Mustafa Özer erzählt: „Früher war er schreckhafter, jetzt ist er ruhiger geworden, man kann ihn überall mitnehmen, wenn er nicht gerade krank ist oder Schmerzen hat. Seine Lieblingsseite ist links. Vielleicht hört er links besser. Aber er kann sich schon durch Mimik äußern. Wenn er was hört, lächelt er schon mal, aber das Lächeln geht ins weinerliche über. Er weint dann nicht, zieht aber die Lippen nach unten. Bei plötzlichen oder lauten Geräuschen zuckt er zusammen oder weint auch. Kalte Hände mag er gar nicht. Dann weint er sofort. Im Alter von etwa sechs Jahren wurde er Diabetiker. Seitdem muss er regelmäßig mit Insulin gespritzt werden. Zu dem Zeitpunkt bekamen wir erstmals einen Seelsorger – bis dahin hatte man uns alleine gelassen. Uns hat geholfen, dass wir sehr früh Kontakt zu anderen betroffenen Familien gehabt haben.“
Austausch mit anderen Betroffenen…
Bereits kurz nach der Geburt gab es über die Essener Klinik einen Kontakt zu einer ebenfalls betroffenen Familie aus dem Westerwald. Daraufhin trafen sich die Familien zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch, es waren dann insgesamt vier Familien, in Olpe. Dort gibt es ein Kinderhospiz in dem die Familien das Wochenende verbringen können. Eine weitere betroffene Familie mit zwei Kindern, beide sind erkrankt, kommt aus Dortmund, so dass dieser Kontakt häufiger stattfinden kann.
…und über Ländergrenzen hinweg
Alle drei bis vier Jahre treffen sich Betroffene zusammen mit Fachärzten auf einem Kongress in Italien. Gäste kamen auch schon aus den USA und Kanada angereist. Familie Özer hat Kontakt zu Familien in vielen Ländern wie Holland oder Schweden aufgenommen. Herr Özer bekam jetzt eine Anfrage zur Organisation eines Kongresses in Deutschland. Angefangen hatte es alles durch einen Kontakt mit einer italienischen Familie, die vorschlug, einen Verein zu gründen. Herr Özer fuhr nach Italien zu diesem Treffen an dem auch einer der beiden Namensgeber, Prof. Jean Aicardi, teilnahm. Dieses Syndrom wurde von ihm und seinem Kollegen Goutières erstmalig 1984 beschrieben.
…gegen die Austragung des Kindes
Im Jahr 2005 war Frau Özer erneut schwanger, aber mit ca. sechs Wochen hat sie das Kind verloren. Dann folgte eine weitere Schwangerschaft im Jahr 2010. Bei einer Probenentnahme aus dem Mutterkuchen stellte sich heraus, dass bei diesem Kind ebenfalls der Gendefekt vorhanden war. Familie Özer entschied sich gegen die Austragung des Kindes. „Hört sich hart an“, sagt der Vater „aber dafür haben wir auch den Test gemacht. Es ist schwierig, unmöglich wäre es nicht, es gibt auch verschiedene Grade der Krankheit. Wir haben E-Mail Kontakt nach Dänemark, da sind zwei Geschwister: die Kleine ist so wie Sevin, und die Große kann eine Tasse umrühren und angeblich sogar lesen.“
…Pudding oder auch Banane
Sevin wurde ca. sechs Monate gestillt, dann reichte seine Saugkraft nicht mehr aus. Er schlief immer wieder ein, die Kinderärztin stellte kritisches Untergewicht fest. Sevin erhielt Babybrei. Auch das war sehr mühsam und dauerte sehr lange. Er aß nicht mit Genuss. Problematisch war die Situation wegen des später auftretenden Diabetes – wenn er das Insulin bekam, aber dann nicht ausreichend aß. Durch den Erfahrungsaustausch mit anderen erfuhr die Familie von der Möglichkeit der Ernährung über eine PEG. Dadurch konnten die fehlenden Energie- und Kohlehydratmengen ausgeglichen werden. Als Sevin etwa neun Jahre alt war wurde die PEG angelegt. Trotzdem isst er weiterhin, zum Beispiel Pudding oder auch Bananen. Trinken mag er beinahe nur wenn es sehr warm ist. Anfang dieses Jahres wurde die PEG gegen ein Button ausgetauscht.
Alltag…
Seit zwei Jahren geht Sevin in Begleitung einer Krankenschwester in die Schule. Zuvor haben z.B. Zivildienstleistende diese Begleitung durchgeführt. Erst bei einem Erfahrungsaustausch erfuhren die Eltern von der Möglichkeit, über die Krankenkasse, in Form der Behandlungspflege, eine Schulbegleitung zu finanzieren. Nach der Begutachtung durch den MDK wurde dem stattgegeben, zumal Sevin auch unter einer Schlafapnoe leidet und hier eine Überwachung, nachts auch ein Beatmungsgerät, notwendig ist. Seit der Begleitung durch professionelle Pflegefachkräfte ist der Gesundheitszustand wesentlich stabiler. „Vorher war Sevin eine Woche in der Schule und dann häufig wieder zwei Wochen krank. Jetzt geht er regelmäßiger zur Schule“, freut sich Mustafa Özer. In der Nacht benötigt er in der Regel das NIV-Beatmungsgerät. Dies wird von den Eltern überwacht, Angebote von der ambulanten Krankenpflege werden wahlweise in Anspruch genommen. Manchmal toleriert er die Maske nicht, dann lassen es die Eltern sein. Eine Überwachung findet durch das angeschlossene Pulsoxymeter statt. Wenn die Sauerstoffsättigung abfällt wird Sevin umgelagert und meistens reicht es dann schon aus, so dass die Sauerstoffsättigung wieder steigt.
…und besondere Situationen
Sevin gehört schließlich zur Familie und soll überall dabei sein, doch aufgrund vieler architektonischer Unzulänglichkeiten, wie fehlender Aufzüge, ist das manchmal schwierig. Deshalb werden Familienfeierlichkeiten häufig in der Wohnung von Familie Özer abgehalten, die im Erdgeschoss barrierefrei wohnt. Stundenweise wird manchmal eine Betreuung für Sevin organisiert, damit auch die Eltern ein paar Stunden alleine genießen können. Wie in der letzten Woche, als sie sich einen Kinofilm angesehen haben.
Quelle: AirMediPlus – Magazin für außerklinische Beatmung, Ausgabe 4/15 (pdf)Früher war er schreckhafter, jetzt ist er ruhiger geworden…

Mustafa Özer erzählt: „Früher war er schreckhafter, jetzt ist er ruhiger geworden, man kann ihn überall mitnehmen, wenn er nicht gerade krank ist oder Schmerzen hat. Seine Lieblingsseite ist links. Vielleicht hört er links besser. Aber er kann sich schon durch Mimik äußern. Wenn er was hört, lächelt er schon mal, aber das Lächeln geht ins weinerliche über. Er weint dann nicht, zieht aber die Lippen nach unten. Bei plötzlichen oder lauten Geräuschen zuckt er zusammen oder weint auch. Kalte Hände mag er gar nicht. Dann weint er sofort. Im Alter von etwa sechs Jahren wurde er Diabetiker. Seitdem muss er regelmäßig mit Insulin gespritzt werden. Zu dem Zeitpunkt bekamen wir erstmals einen Seelsorger – bis dahin hatte man uns alleine gelassen. Uns hat geholfen, dass wir sehr früh Kontakt zu anderen betroffenen Familien gehabt haben.“
Austausch mit anderen Betroffenen…
Bereits kurz nach der Geburt gab es über die Essener Klinik einen Kontakt zu einer ebenfalls betroffenen Familie aus dem Westerwald. Daraufhin trafen sich die Familien zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch, es waren dann insgesamt vier Familien, in Olpe. Dort gibt es ein Kinderhospiz in dem die Familien das Wochenende verbringen können. Eine weitere betroffene Familie mit zwei Kindern, beide sind erkrankt, kommt aus Dortmund, so dass dieser Kontakt häufiger stattfinden kann.
…und über Ländergrenzen hinweg
Alle drei bis vier Jahre treffen sich Betroffene zusammen mit Fachärzten auf einem Kongress in Italien. Gäste kamen auch schon aus den USA und Kanada angereist. Familie Özer hat Kontakt zu Familien in vielen Ländern wie Holland oder Schweden aufgenommen. Herr Özer bekam jetzt eine Anfrage zur Organisation eines Kongresses in Deutschland. Angefangen hatte es alles durch einen Kontakt mit einer italienischen Familie, die vorschlug, einen Verein zu gründen. Herr Özer fuhr nach Italien zu diesem Treffen an dem auch einer der beiden Namensgeber, Prof. Jean Aicardi, teilnahm. Dieses Syndrom wurde von ihm und seinem Kollegen Goutières erstmalig 1984 beschrieben.
…gegen die Austragung des Kindes
Im Jahr 2005 war Frau Özer erneut schwanger, aber mit ca. sechs Wochen hat sie das Kind verloren. Dann folgte eine weitere Schwangerschaft im Jahr 2010. Bei einer Probenentnahme aus dem Mutterkuchen stellte sich heraus, dass bei diesem Kind ebenfalls der Gendefekt vorhanden war. Familie Özer entschied sich gegen die Austragung des Kindes. „Hört sich hart an“, sagt der Vater „aber dafür haben wir auch den Test gemacht. Es ist schwierig, unmöglich wäre es nicht, es gibt auch verschiedene Grade der Krankheit. Wir haben E-Mail Kontakt nach Dänemark, da sind zwei Geschwister: die Kleine ist so wie Sevin, und die Große kann eine Tasse umrühren und angeblich sogar lesen.“
8. Dezember 2015